Speicher der Zukunft
Eine interaktive Installation von Thomas Rustemeyer und Julian Warner
23.09.–15.10.2022
Mitten in Ludwigsburg wurde bis Ende 2018 der berühmte Caro-Kaffee produziert. Zwei Jahre später kaufte die Stadt Ludwigsburg den ehemaligen Produktionsstandort des Kaffeemittelherstellers: das Franck-Areal, ein riesiges Industriegelände mit imposanten Lager- und Produktionsräumen. Im September 2021 wurde das Areal mit dem Festival NEULAND das erste Mal für Publikum geöffnet.
So sehr wir uns um einen wirklichen Neuanfang bemühen: Das Neuland, das wir betreten, die neue Zeit, in die wir aufbrechen, wird nie ganz unabhängig von der alten sein. So haben Menschen, die sich ins Unbekannte aufmachten, immer etwas aus der Heimat mitgenommen – und tun das auch heute noch. Thomas Rustemeyer, Bruno Jacoby und Julian Warner zeigten mit dem "Speicher der Zukunft", dass Altes in neuer Konstellation und Überliefertes, das uns ans Herz gewachsen ist, auch seinen Platz in der Zukunft haben darf.
Im Rahmen des Festivals ÜBER:MORGEN der KulturRegionStuttgart haben sie in einem ehemaligen Produktionsgebäude auf dem Franck-Areal ein Archiv mit Schreibtischen, Telefonen, Aktenordnern und jeder Menge Papierkram eingerichtet.
Hier konnten Menschen aus der Stadt ihre eigenen Antworten auf die Zukunftsfragen abgeben – in Form von kleinen oder großen Objekten, Choreografien, Melodien oder aufgezeichneten Anekdoten:
Was ist für dich erhaltenswert?
Was ist für dich zukunftsweisend?
Was sollte Ludwigsburg mit in die Zukunft nehmen?
Die Angestellten, Beamten und Beamtinnen, gespielt von geschulten Performer und Performerinnen, agierten nach einem strengen Protokoll. Sie nahmen die eingereichten Zukunfts-Objekte in Empfang, protokollierten den Eingang und führten die Besucher und Besucherinnen durch das Schaudepot mit allen bislang abgegebenen Stücken. Tag für Tag und Woche für Woche erweiterte sich mit jeder Leihgabe die Erzählung eines neuen Ludwigsburgs.
Eindrücke
© KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola
© KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola
© KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola
Foto: Benjamin Stollenberg
Foto: Benjamin Stollenberg
Foto: Benjamin Stollenberg
Foto: Benjamin Stollenberg
Foto: Benjamin Stollenberg
Foto: Benjamin Stollenberg
Foto: Benjamin Stollenberg
Dokumentation
Der Text ist auf Grundlage eines Gesprächs mit dem Künstler Thomas Rustemeyer, den Erfahrungsberichten der Performer und Performerinnen während der Projektlaufzeit und persönlicher Eindrücke vor Ort entstanden und wurde vom Fachbereich Kunst und Kultur der Stadt Ludwigsburg zusammengetragen.
© KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola Speicher und Archiv Vom 22. September bis zum 15. Oktober war der „Speicher der Zukunft“ als interaktive Installation der Künstler Julian Warner, Thomas Rustemeyer und Bruno Jacoby auf dem Franck-Areal in Ludwigsburg zu sehen. Das Kunstprojekt war Teil des Festivals ÜBER:MORGEN der KulturRegion Stuttgart, welches im selben Zeitraum in 21 Kommunen der Region Ausstellungen, Installationen und Konzerte bis hin zu partizipativen Arbeiten und öffentlichen Diskursformaten zeigte. Im Franck-Areal in Ludwigsburg hing ein 13 Meter hoher Vorhang in einem noch höheren Raum an einem Kran. 66 Taschen mit unterschiedlichsten Zeichen wurden zum Aufbewahrungsort für Gegenstände. Die Dinge, die Besucher und Besucherinnen während der Projektdauer dort bei den „Archivaren und Archivarinnen der Zukunft“ abgegeben haben, fanden dort einen vorübergehenden Platz: Objekte, die es den Leihgeberinnen und Leihgebern wert waren, dass ihre Geschichte erzählt und in die Zukunft getragen werden - sei es aus persönlichen oder gesellschaftlichen Motiven. Thomas Rustemeyer, der für die Vorhang-Installation und Rauminszenierung verantwortlich war, beschreibt die Installation als Schaudepot: „Als einen Ort, der etwas konservieren, aufbewahren und sammeln kann – es will Objekte zur Schau stellen. In dem Moment, in dem Dinge dort abgegeben wurden, wurden sie aufgeladen und erhielten eine Bedeutung für die Zukunft.“
© KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola Ort und Raum Im Herzen von Ludwigsburg, direkt am Bahnhof, befindet sich das Franck-Areal, die ehemalige Produktionsstätte des berühmten Caro Kaffees. Der Gebäudekomplex mit seinen großen Hallen und weitläufigen Räumen strahlt gleichermaßen Monumentalität und Bestimmtheit aus. Insbesondere der Raum in Gebäude 25, in dem der „Speicher der Zukunft“ gezeigt wurde, hat eine sakrale Anmutung, die durch die hohen Oberlichter bei Tageslicht noch verstärkt wird. Gleichzeitig ist durch den Geruch nach Malz und Zichorie und die alten Maschinen eine besondere Stimmung zu spüren, die von der früheren, historischen Nutzung herrührt. In der Vergangenheit wurde das Areal industriell genutzt. Mit dem Wegfall des Produktionsstandorts entfiel diese Grundlage. Der vorübergehende Zustand vor den Nutzungsarten in der Zukunft, die noch definiert werden müssen, war Ausgangspunkt für die Überlegungen von Julian Warner und Thomas Rustemeyer. „Denn wie bei der letzten industriellen Revolution entsteht auch derzeit das Neue inmitten des Alten. Die Menschen erleben eine Zeit des Dazwischen […].“, beschreibt Julian Warner als Kurator des ÜBER:MORGEN Festivals in seinem Mission Statement den Wandel. Ehemalige Industriestandorte bewegen sich zwischen „nicht-mehr“ und „noch-nicht“. Auch das Franck Areal in Ludwigsburg befindet sich in einem gleichermaßen schwebenden Zwischenzustand, in dem noch unklar ist, wie es weitergehen wird: Teile der Maschinen sind noch vor Ort, man erkennt, dass dort einmal Ersatz-Kaffee produziert und mehrere hundert Menschen gearbeitet haben. Aber noch sind neue Nutzungskonzepte und die Identität des Areals nicht festgelegt: Wie kann dieser Ort, diese Zwischenzeit bearbeitet werden? Was findet man jetzt vor und was möchte und sollte mit in die Zukunft getragen werden? Diesen Zustand galt es bereits 2021 beim Festival NEULAND zu umkreisen und zu befragen. Zusammen mit der Wüstenrot Stiftung öffnete die Stadt Ludwigsburg mit dem Festival für Stadt Raum Kunst erstmals das Areal für Publikum. Es wurde nach Spuren und künstlerischen Potenzialen der leerstehenden ehemaligen Produktionsstätte gesucht. In diese Tradition reiht sich der „Speicher der Zukunft“ ein, indem er die Themen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft behandelt.
Bildunterschrift: © KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola Partizipation und Interaktion Der „Speicher der Zukunft“ war nicht nur eine Rauminstallation, die man als Besucher oder Besucherin erleben konnte, sondern vor allem auch ein Projekt, das Beteiligung erforderte. Ohne die geliehenen Objekte, die von Ludwigsburger Vereinen, Institutionen, Initiativen und Privatpersonen abgegeben wurden, hätte die Idee des Speichers nicht funktioniert. Durch einen Aufruf in der lokalen Presse und über zahlreiche analoge wie digitale Kanäle rief der „Speicher der Zukunft“ dazu auf, Objekte und Wünsche während der Öffnungszeiten abzugeben: Was ist für dich erhaltenswert? Was ist für dich zukunftsweisend? Was sollte Ludwigsburg mit in die Zukunft nehmen? Die Abgabe der Objekte erfolgte im Austausch mit den Archivaren und Archivarinnen der Zukunft, die von geschulten Performern und Performerinnen gespielt wurden. Jede Geschichte zu einem abgegebenen Objekt wurde auf einer überdimensional großen Akte schriftlich festgehalten. Thomas Rustemeyer beschreibt den Speicher daher auch als Plattform, als Ort des Austauschs und Dialogs. Am Ende jedes Öffnungstages wurden die abgegebenen Objekte von den Archivarinnen und Archivaren der Zukunft in einer feierlichen Performance in den „Speicher der Zukunft“ überführt, indem zu jedem Objekt seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorgetragen wurde. In dieser strengen künstlerischen Form wurden die Objekte und Ideen in einen neuen, größeren Kontext gesetzt, der viele Besucher und Besucherinnen anlockte. Thomas Rustemeyer zum performativen Akt: „Die Aufmerksamkeit wurde auf das Prozesshafte der Installation gelegt.“
Bildunterschrift: © KulturRegion Stuttgart, Foto: die arge lola Objekte und Wünsche Durch das Abgeben eines Objekts, war dieses nicht mehr nur ein Objekt: Es wurde Teil des „Speichers der Zukunft“. Es bekam einen neuen Kontext und wurde mit Bedeutung befüllt. Ein privates Objekt beispielsweise, das nur für eine Person eine individuelle Bedeutung hatte, konnte durch das Archivieren im Speicher in das öffentliche Leben treten und wurde neben zahlreichen weiteren abgegebenen Objekten zur Schau gestellt. Aber auch politisch oder sozialkritisch bedeutsame Objekte wurden von Institutionen oder Vereinen abgegeben. Objekt bedeutet in diesem Kontext jedoch nicht nur ein physischer Gegenstand. Gedanken, Wünsche und Träume, wie der Wunsch nach dem Erhalt des Franck Areals für alle, wurden archiviert. Die Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen füllte das Projekt mit Leben. Eine kleine Auswahl zeigt die Bandbreite der abgegebenen Objekte und Personen, die am „Speicher der Zukunft“ mitgewirkt haben:
Reisepass eines NS Opfers Das Staatsarchiv Ludwigsburg lieh dem „Speicher der Zukunft“ ein Faksimile des Reisepasses des wohl aus Wiesbaden stammenden Juden Alfred Moser, der aus der Verwaltung des Lagers 74 (Flakkaserne Ludwigsburg) stammt: Moser war, obwohl Jude, als Auslandsdeutscher, der u.a. in China weilte, nach dem Krieg interniert worden und saß zeitweise im gleichen Lager wie ehemalige NS-Funktionäre. Sein eingezogener Pass, den man ihm offensichtlich aus Zensurgründen nicht mehr nachschicken konnte, enthält seine ganze Fluchtgeschichte mit Aufenthalten in Hongkong, Italien, Portugal und China. Er steht damit für die Bandbreite an Personen mit unterschiedlichen Geschichten, die in den ersten Nachkriegsjahren in Ludwigsburg lebten.
Eine Rechnung von Schneehase Waschpulver Vor 13 Jahren fand eine Ludwigsburger Bürgerin bei einer Hausrenovierung einen Zettel unterhalb des alten Fußbodens. Es handelte sich um eine Rechnung vom 25. Oktober 1909 für das Waschmittel der Firma Schneehase. Die neue Besitzerin versuchte über mehrere Jahre die Familie ausfindig zu machen, die namentlich als Rechnungsempfänger notiert wurde, ohne Erfolg. Durch den „Speicher der Zukunft“ wurde sie motiviert ihre Suche wieder aufzunehmen und wenn sie wieder erfolglos bleiben sollte, hat sie nun zumindest die Gewissheit, dass die Geschichte archiviert und für die Zukunft gespeichert worden ist.
In Ludwigsburg wimmelts In Form eines Buches kann Ludwigsburg selbst abgebildet werden. Das Buch „In Ludwigsburg wimmelts“ vom Online-Magazin Hallo Ludwigsburg zeigt die diverse Gesellschaft, die in der Stadt wohnt und lebt. Der Leihgeberin war es wichtig, zu zeigen, dass das Buch die gesamte Stadtgesellschaft abbildet und sichtbar macht. An dem Buchprojekt waren neben der Grafikerin und den Initiatorinnen, zahlreiche Ludwigsburger Bürgerinnen und Bürger beteiligt, die ihre Perspektive auf die Stadt eingebracht haben.
Kastanienbaumblatt Nicht nur Objekte, die gezielt im „Speicher der Zukunft“ abgegeben wurden, waren Teil des Projektes, sondern auch spontane Ideen und Überlegungen fanden ihren Platz im Speicher. So wurde etwa das Blatt eines Kastanienbaumes abgegeben, das vor dem Eingang zum Franck-Areal gefunden wurde und sinnbildlich für ein grünes und klimagerechtes Ludwigsburg stehen soll.
Foto: Benjamin Stollenberg Zusammenarbeit und Komplizenschaft Ein solches Projekt entsteht nicht im Alleingang. Die drei Künstler Julian Warner, Thomas Rustemeyer und Bruno Jacoby haben während der gesamten Projektphase in engem Austausch miteinander gearbeitet. Julian Warner schrieb das Gesamtkonzept und gestaltete den performativen Teil des Projektes und die Zusammenarbeit mit den Performern und Performerinnen. Thomas Rustemeyer konzipierte und realisierte das Schaudepot und war für die Rauminszenierung verantwortlich. Das Bezugssystem zwischen den Taschen des Vorhangs und den Akten wurde von Bruno Jacoby entworfen. Er gestaltete zudem alle Print- und Digitalmedien für das Projekt. Thomas Rustemeyer verwendet für diese Art der Zusammenarbeit den Begriff der Komplizenschaft nach Gesa Ziemer. Sie beschreibt in ihrem Buch „Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität“ eine andere Art von Partizipation und Zusammenarbeit. Komplizen und Komplizinnen schreiten eng verflochten zur Tat, sie verbünden sich, um risikofreudige, offene und ungesicherte Projekte zu entwickeln, um etwas Neues zu schaffen. Rustemeyer betont, dass nicht ein einzelner Autor oder Autorin für das Gelingen des Projektes verantwortlich war, sondern eine Vielzahl an Menschen: Künstler, Techniker, Lichtgestalter, Performerinnen, Näherinnen, Kooperationspartner, und zuletzt maßgeblich die Besucher und Besucherinnen, die den Speicher mit ihren Objekten und Geschichten mit Leben gefüllt haben. Alle zusammen waren Komplizen und Komplizinnen des „Speichers der Zukunft“.
Foto: Benjamin Stollenberg Zukunft und Fortbestehen Der „Speicher der Zukunft“ wurde am 15. Oktober 2022 wieder geschlossen. In den drei Wochen der Öffnung wurden über 50 Objekte abgegeben und 270 Menschen haben die Installation besucht. Um die Akten nachhaltig für die Zukunft zu speichern, werden sie an das Stadtarchiv Ludwigsburg übergeben, dort archiviert und interessierten Bürgerinnen und Bürgern zugänglich gemacht. Das Festival ÜBER:MORGEN bot in allen teilnehmenden Kommunen eine Plattform für einen lebendigen Austausch über die Zukunft und die Diskussion darüber, was erhaltenswert ist. Es wurde deutlich, dass jeder Mensch ein anderes Zukunftsverständnis mit unterschiedlichen Prioritäten und teils konträren Vorstellungen hat. Es ist wichtig, alle Perspektiven zu hören und ihnen den Raum zu geben, um ein gemeinsames Übermorgen zu gestalten. Im „Speicher der Zukunft“ sind diese nun gebündelt und für die Zukunft gespeichert.
Dank Die Stadt Ludwigsburg und die Wüstenrot Stiftung bedanken sich für die künstlerische Ausarbeitung bei Thomas Rustemeyer, Julian Warner und Bruno Jacoby sowie bei den Performern und Performerinnen Hanna Araujo Ulmer, Linda Bockmeyer, Patricia Franke, Mateja Kardelis und Mu Wang. Der „Speicher der Zukunft“ war eine Kooperation der Stadt Ludwigsburg mit der Wüstenrot Stiftung. Die Dokumentation finden Sie hier (1 MB ) zum Download.
Akten
Künstler
Julian Warner
Julian Warner arbeitet als Kulturanthropologe transdisziplinär in den Bereichen Kuration, Theater und Musik. Die Schwerpunkte seiner akademischen Laufbahn Black European Studies und Rassismus- und Popkulturforschung brachte er bereits in diversen Theateraufführungen, Festivals sowie in künstlerischen Konferenzen zum Ausdruck. Unter dem Alias Fehler Kuti veröffentlicht er Musikalben an der Schwelle von Pop, Kunst und Politik. Er ist künstlerischer Leiter des Festivals 2022 der KulturRegion Stuttgart und designierter künstlerischer Leiter des Brechtfestivals 2023–25.
Thomas Rustemeyer
Thomas Rustemeyer studierte Architektur und Städtebau in Karlsruhe und Berlin. Er realisiert Ausstellungen, Publikationen und Zeichnungen, häufig stehen dabei räumliche und urbane Fragen im Fokus. Aktuell ist er als Vertretungsprofessor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe tätig.
Franck-Areal am Bahnhof, Gebäude 25 | Pflugfelder Straße 27 | 71636 Ludwigsburg
Eine gemeinsame Veranstaltung der Stadt Ludwigsburg und der Wüstenrot Stiftung.